Ulrike Johannsen

Wie individuell oder authentisch sind Sehnsüchte in einer Welt der realen Wirkung massenmedial geprägter Klischees und Fiktionen? Welche mentalen Zustände zwischen Identifikation und innerer Distanz werden provoziert angesichts eines zunehmenden Konsums verschiedener Lebensstile und öffentlicher Charaktere? Welches Außen strukturiert unser Selbst, und wie lässt es sich beeinflussen?

In ihren Installationen, Objekten und Papierarbeiten untersucht Ulrike Johannsen die Identifikationspotenziale unserer glücksversprechenden, auf Konsum ausgerichteten Lifestylkultur. Sie zitiert, verarbeitet und manipuliert die verführerische Sprache einer Pop- und Medienindustrie, die ihrem Anspruch nach alle Lebensbereiche erfasst. Dabei agiert sie stets aus der Perspektive einer Teilnehmerin, die sich bewusst ist, dass die Begehren, Fantasien und (Ent-)Täuschungen, die sie hinter-fragt, immer auch ein Teil ihrer selbst sind.

Eine zentrale, seit 1998 entstandene Werkgruppe sind ihre Textcollagen, in denen sie buchstäblich hinter die Oberflächen der suggestiven Vorlagen dringt. Neben Fotografien, Film- und Werbeplakaten sind es Fernsehzeitschriften, später hochwertige Wohn- und Lifestylemagazine wie Home und Cosmopolitan, die sie durch ihre pointierten Eingriffe manipuliert. Konkret schneidet sie einzelne Buchstaben aus, um sie zu neuen Wörtern und Texten zusammenzusetzen und aufzukleben. In den so geschaffenen Oberflächenstrukturen materialisiert sich ein Ineinander verschiedener visueller Prozesse und Ebenen. Auffällig ist zunächst, dass das Zerschneiden der Plakate und Zeitschriften kein aggressiver Vorgang und dass das Perforieren der Glamour- und Modewelt nicht vom Gestus der Zerstörung getragen ist. Die Einschneidungen werden vielmehr vorsichtig, nahezu liebevoll und präzise umgesetzt. Die Eingriffe in die Begleit- und Informationstexte der Werbebilder sind so oft erst auf den zweiten Blick zu erkennen. Gleiches gilt für die eingeklebten Wörter, die sich geradezu harmonisch in das Layout einfügen. Dennoch wirken die Bildmotive in ihrer Botschaft und Vehemenz nur scheinbar unberührt. Tatsächlich werden sie subtil unterlaufen, indem den schillernden Versprechungen, die sie transportieren, poetische Texte über wahrhaftig gefundene Zuflucht, erfüllte Liebe aber auch Einsamkeit, Hilflosigkeit und „zertretene Hoffnungen“ gegenüber gestellt werden.

Ulrike Johannsen bleibt mit den ausgeschnittenen und neu arrangierten Buchstaben häufig innerhalb der einzelnen Sujets, so dass alter und neuer Kontext der Zeichen nebeneinander stehen und unweigerlich ein Wechselspiel ihrer Bedeutungen etablieren. Zum einen unterstreicht sie dadurch den technischen Produktionsprozess, zum anderen erzeugt sie eine das Ergebnis prägende Ambivalenz zwischen Vorgefundenem und Generiertem. Die Setzungen entstammen jenen Seiten, denen sie sich neu einschreiben. Dabei liegt eine weitere Besonderheit der Arbeiten darin, dass es sich bei den neu arrangierten Wörtern und Texten nicht um unmittelbare, persönliche Äußerungen handelt, die in Reaktion auf die einzelnen Sujets entwickelt wurden, sondern um Zitate literarischer Quellen und bekannter Songtexte. Insbesondere bei letzteren wird auf diese Weise eine Ausdrucksform der Populärkultur mit einer anderen konfrontiert und die Identifikationspotenziale beider gegeneinander ausgespielt. Die so generierten Botschaften sind alles andere als eindeutig. Die Wünsche nach einem besseren Leben, die durch die präsentierten Oberflächen geweckt werden, auf der einen und das Wissen um die Leere dahinter auf der anderen Seite treten in ein unauflösliches Spannungsverhältnis. Der medienkritische Impetus der Arbeiten liegt somit nicht im bloßen Aufdecken der Illusionsmachinerie. Vielmehr setzen sie gerade voraus, dass diese Funktionsweisen hinlänglich bekannt sind. Stattdessen drängt sich die Frage auf, ob das Begehren, wenn es erkannt hat, dass es sich bei seinen Zielen um falsche Symbole und unhaltbare Versprechen handelt, an Wirkung verliert und zu einer Distanzierung führt, oder ob es an Kraft gewinnt, sich womöglich zum Fantasma steigert. Die Arbeiten Ulrike Johannsens funktionieren wie ein Spiegel, den sie sich selbst ebenso wie dem Betrachter und der Betrachterin vorhält. Das Bild, das sie zeigen ist das jedem bekannte Gefühl des eigenen Gespalten-Seins, die doppelte Struktur des Ich-auch: Ich bin anders und ich will das auch.

Viele Arbeiten Ulrike Johannsens sind getragen von einer romantischen Sehnsucht, die–der historischen Ausprägung durchaus vergleichbar – von der Heilung des Risses, der durch die Welt geht, und einem Zustand aufgehobener Entfremdung träumt. Die Orte des Rückzugs und Metaphern der Seele sind allerdings nicht länger in der Einsamkeit der Natur zu finden. Auch legt sie den Fokus nicht auf das romantische Subjekt, die Selbstdarstellung des Künstlers als Inbegriff moderner Individualität.[i] Näher ist ihr ein Ansatz, wie er beispielsweise von Daniele Buetti verfolgt wird, der in seinen Arbeiten mentale Zustände anhand von Strategien der Massenkultur und Phänomenen der Alltagsästhetik reflektiert.[ii] Das Erleben von Gefühlen und Leidenschaften scheint bei Johannsen nur noch bedingt ein individuelles zu sein. Beobachten oder besser nachfühlen lassen sich diese Verschiebungen in der Art und Weise wie sie Textzitate als Schablonen der Selbstfindung und -reflexion einsetzt. So verweisen etwa die Songs bereits durch die Reduktion auf ihre Texte auf prototypische Situationen des Alleinseins: Das Lesen von Songtexten findet gewöhnlich zurückgezogen, in den eigenen vier Wände statt und beinhaltet das Gemeinschaftserlebnis des Konzerts allenfalls noch als konservierte Erinnerung. Gleichzeitig sind die ausgewählten Songs Hits von Madonna, den Talking Heads, Billie Holiday, Bob Dylan und John Lennon. Auch wenn in ihnen noch die Erinnerung an Gegenkultur mitschwingt, sind sie längst Teil des Mainstreams geworden, zu Liedern, die Millionen Trost spenden. Ein vergleichbares Phänomen ist das Schauen von Videos. Für Meine Sonntagnachmittage hat Johannsen einen Text Haruki Murakamis, der von einer lähmenden Antriebslosigkeit und Trägheit angesichts sinnvoller Vorhaben handelt, in eine Reihe von Werbeplakaten für Blockbuster, die im Schaufenster einer Videothek hingen, eingeschnitten. Die formale Spannung zwischen der selbstvergessenen, feingliedrigen Schneidearbeit und der beibehaltenen Präsentation in der Öffentlichkeit der Strasse findet ihr Pendant im Kontrast zwischen emotionalem Leerlauf und den großen Gefühlen aus der Retorte, zwischen der unerträglichen Situation des Zurückgeworfenseins auf sich selbst und dem Konsum der überwältigenden Empathie. Die Tonlage, die sich hier einschleicht, ist die der Melancholie. Linderung für das angegriffene Selbstwertgefühl verspricht einzig die Gewissheit, dass es sich um eine kollektive Erfahrung handelt, dass es anderen an ihren Sonntagnachmittagen auch so geht.

Die Motive des Sichzurückziehens, der Selbstbefragung und des Innenraums finden sich, mit anderen Mitteln umgesetzt auch in den Installationen wieder. Zu den verschiedenen symbolischen Räumen, die Ulrike Johannsen diesbezüglich auslotet zählen sowohl der Schlaf (Heaven) wie auch die Augen, die sprichwörtlich als Spiegel der menschlichen Seele gelten. Für eine ihrer ersten künstlerischen Arbeiten, Augenarbeit hat sie auf zahlreiche Schalen, innen wie außen Bilder von Augäpfeln fixiert. Die unheimliche Wirkung dieser Objekte auf den Betrachter und die Betrachterin rührt unter anderem von der Verweigerung des Blicks, der von ihrer Körperlichkeit befreiten ziellos herumkugelnden Organe.

Die Erlebnisräume Love Lounge 2 / 2,5 Kubikmeter Unendlichkeit und Love Lounge 3 / Desperados hingegen stellen den Betrachter und die Betrachterin in den Mittelpunkt. Beide Arbeiten bestehen aus einem engen, nur einer Person Platz bietenden Kubus, der über eine Leiter zu erreichen ist. Ihr Innenraum ist jeweils komplett mit Spiegelfliesen verkleidet. Sie sind ein Zitat jener Discoästhetik, die mit kühlen, metallisch reflektierenden Oberflächen und Stroboskoplicht Erlebnisräume zur Bewusstseinserweiterung schaffen und den Tanz als Befreiung feiert. Die Dialektik des Sich-Selbst-Findens im Sich-Selbst-Verlieren wird hier allerdings nicht nur zitiert, sondern gleichzeitig vorgeführt. In der Verengung des Raums zur Höhle wird die zerbrochene Spiegelfläche zu einem Instrument der Selbstreflexion. Der Betrachter oder die Betrachterin erlebt sich dabei nicht als Ganzes vor einem perspektivisch geordneten Tiefenraum, sondern sieht sich zersplittert und vervielfacht einem Innenraum gegenüber, der in seinen Dimensionen und Begrenzungen nicht auszumachen ist.

Die jüngsten Arbeiten Ulrike Johannsens sind während und in Folge eines längeren Aufenthaltes in Peking entstanden. Im Vergleich zu den älteren Arbeiten wirken diese offensiver, stärker nach außen gerichtet. Beispielhaft dafür stehen ihre Einschneidungen in eine chinesische Ausgabe der Cosmopolitan. Das Erscheinen von Hochglanzmagazinen seit den späten 1990ern steht in enger Beziehung zur rasant wachsenden städtischen Konsumkultur Chinas, und die Ausgaben internationaler Marken ebenso wie heimische Produkte haben durch die zahlreichen Verkaufsstellen auf der Strasse eine große öffentliche Präsenz. Dies sollte aber nicht darüber hinweg täuschen, dass die öffentliche Sphäre nach wie vor dadurch bestimmt ist, dass es keine umfassende Redefreiheit gibt und Inhalte von Massenmedien vom Staat kontrolliert werden.[iii] Johannsen wählt in diesem Zusammenhang kein Zitat sondern das Zeichen der Verneinung, „Bu“, um es durchgehend auszuschneiden und auf Abbildungen von Fotomodellen und Objekten zu kleben. Das erinnert einerseits an politisierende T-Shirt-Slogans und suggeriert Widerspruch, Auflehnung und offen nach außen getragenen Protest. Andererseits verweist der Appendix mit den Bedeutungen ‚nein’ oder ‚nicht’ direkt auf die Grenzen der Freiheit und des Erreichbaren, auf die Doppeldeutigkeit des bis hierhin und nicht weiter, insofern das Schriftzeichen einen Vogel symbolisiert, der an den Himmel stößt.

Die Frage nach den strukturellen Grenzen zwischen privaten und öffentlichen Räumen ebenso wie die nach der
(Un-)Möglichkeit ihrer Überschreitung und der Rolle, die das Individuum dabei spielt, charakterisiert auch die Werkgruppe Stockholm Syndrom. Der aus rotem Acrylglas geschnittene, semitransparente Vorhang 不做, Bu zuo / don’t erinnert zunächst an traditionelle chinesische Holzfenster und ihre Funktion des Sonnen- wie Sichtschutzes. Beschreibt die Textur hier die architektonische Situation der Schwelle, den Übergang von Innen nach Außen, so ist es in The Suits die Kleidung als Statussymbol, das „Leute macht“, gleichermaßen wie die Kleidung als selbstgewählte Repräsentations-fläche des Individuums. Die Anzüge sind eine Weiterentwicklung der Arbeit No Mercy aus dem Jahr 1997, für die Ulrike Johannsen eine Serie von Strickpullover mit einem Muster aus kurzen Sätzen wie „see me“, „watch me“, „touch me“, „love me“, „fuck me“, „fear me“ und „save me“ anfertigen ließ. Anstelle der vom Verlangen nach Aufmerksamkeit, Kontakt und Zweisamkeit gesteuerten Bitten treten nun die Aufforderungen „control me“ und „obey me“. Transformiert zu dezenten, kleinteiligen Mustern, gedruckt auf grauen Stoffen, verarbeitet zu Anzügen im Stil der internationalisierten formellen Geschäftskleidung und getragen von einer typischen Ein-Kind-Familie werden die Sätze zur grundlegenden Struktur privater wie gesellschaftlicher Macht- und Abhängigkeitsverhältnisse. Sie erzeugen eine beängstigende Ambivalenz, da unklar bleibt wer der Sender der Botschaften ist. Trägt die Familie, jeder/jede einzelne der drei, die Anzüge und damit die Botschaften weil er/sie sich damit identifiziert, oder weil er /sie sich hinter der Uniform versteckt, sie als Schutzschild nimmt, um sein/ihr wahres Gesicht zu verbergen? Dasselbe Spannungsverhältnis durchzieht die Zeichnungen dieser Werkgruppe. Mit Tusche „schneidet“ Ulrike Johannsen aus Modefotos wiederholt Gesichter, zum Teil auch nur die Augen und Münder aus. Ein Eingriff, mit dem sie die perfekte wie maskenhafte Erscheinung der Personen herausarbeitet, den sie aber gleichermaßen einsetzt, um ihnen Masken aufzusetzen, hinter denen sie sich verstecken und so der Identifizierung entziehen können.

Der Titel Stockholm Syndrom, den Ulrike Johannsen nicht nur der Werkgruppe sondern ebenso ihrem Katalog gegeben hat, verweist explizit auf das Nebeneinander entgegengesetzter Wahrnehmungen und Verhalten angesichts eines Abhängigkeitsverhältnisses. Das Syndrom bezeichnet ein psychologisches Phänomen, das erstmals 1973 anlässlich einer Geiselnahme in Stockholm beschrieben wurde. Demnach entwickeln die Opfer ein positives emotionales Verhältnis zu ihren Entführern, sympathisieren oder sogar kooperieren mit ihnen. Ursache und Motivation ist ein Schutzmechanismus: Um sich nicht in Gefahr zu bringen, vor allem aber um sich nicht allein gelassen zu fühlen und sein Selbstwertgefühl nicht zu verlieren, zeigt sich das Opfer dankbar für kleinste Zugeständnisse. Das Verhalten, das von außen deutlich als Wahrnehmungsverzerrung, die nur einen Teil-Zusammenhang der Situation erfasst, erkennbar ist, hat somit eine klare innere Logik. Aufzuzeigen, dass uns angesichts der Übermacht der massenmedialen Konsumkultur möglicherweise längst eine vergleichbare Wahrnehmungsverzerrung erfasst hat, und zu untersuchen wie sich unter diesen Voraussetzungen der tägliche Spagat zwischen Ablehnung und Zugeständnissen äußerst ein wesentlicher Verdienst der Arbeiten von Ulrike Johannsen.

 

 

 



[i] Siehe dazu: Texte zur Kunst, Romantik, Nr. 65, März 2007; insbesondere den Artikel von Sven Lütticken: Der Rebell als Kosument / über Künstlermythen romantisch und / oder zeitgenössisch, S. 66ff.

[ii] Daniele Buetti. Maybe You Can Be One of Us, hrsg. von Anna Graf, Ausstellungskatalog Swiss Institute of Contemporary Art, New York, Kunsthalle Recklinghausen und Kunstmuseum Mühlheim Ruhr, Ostfildern: Hatje Cantz 2008.

[iii] Kevin Latham: Pop Culture China! Media, Arts, and Lifestyle, Santa Barbara, Calif.; Oxford: ABC-CLIO 2007.