Ulrike Johannsen

 

 

Wiener Nachtpfauenauge / 32 Photografien gerahmt / Maße und Hängung variabel / 2014

Wiener Nachtpfauenauge / 32 photographs framed / measurements und hanging variable / 2014

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Das Wiener Nachtpfauenauge ist eine gefährdete Schmetterlingsart aus der Familie der Pfauenspinner. Männchen und Weibchen des licht-empfindlichen Falters weisen die gleiche Färbung auf und mit einer Flügelspannweite von 10,5 bis 16 cm ist er der größte Schmetterling Mitteleuropas. Sein auffälligstes Kennzeichen jedoch ist der dunkle Augenfleck auf jedem Flügel. Das Augenpaar auf dem Rücken lässt den Insektenkörper zu einem Gesicht werden. Als Instrument der Täuschung ist es nicht nur Schmuck, sondern vor allem Strategie im täglichen Überlebenskampf. Es ist ein ausgeklügeltes Versteckspiel und ein irritierender Bluff, der den Schmetterling zur Abschreckung und zum Schutz vor Fressfeinden noch größer erscheinen lässt und der seine Identifizierung als Insekt unmöglich macht. Dass Ulrike Johannsen ein Foto mit zwei präparierten Wiener Nachtpfauenaugen, einem männlichen und einem weiblichen Exemplar, in ihre gleichnamige Installation integriert, kommt nicht von ungefähr. Verkörpern die hier in aller Kürze umrissenen Eigenschaften der Schmetterlinge doch bereits einige der zentralen Themen ihrer Arbeit: Symmetrie und Doppelung, die Ambivalenz des Geschlechts, Fragen der Identität und ihrer Verwandlung, sowie das maskenhafte Spiel mit Sein und Schein.

Die 32 fotografischen Bildtafeln, die Johannsen in Wiener Nachtpfauenauge räumlich auf der Wand anordnet, zeigen die unterschiedlich-sten Motive, wie den Faltenwurf eines Vorhangs, das Porträt eines österreichischen Gardesoldaten, eine Faschingsszene, zwei gleich zurechtgemachte posierende Jugendliche in den 1970er-Jahren und eine nächtliche Landschaft. Die Bilder stammen aus ebenso verschie-denen Quellen. Gezielt recherchiertes Material steht neben Schnappschüssen aus dem Familienalbum oder am Flohmarkt gefundenen Fotografien, die von der Künstlerin zum Teil über Jahre gesammelt und im eigenen Archiv verwahrt wurden, bevor sie ihren Platz im de-zentrierten Raster dieser Installation gefunden haben. Johannsen ordnet die Bildtafeln in einem gleichermaßen strukturierten wie offenen System einander zu. Das vermeintlich Disparate erweist sich dabei von einer inneren Logik durchdrungen. Gemeinsam bilden die Bilder ein Gefüge, in dem sich die entfernten Sachverhalte und Zeichensysteme miteinander verbinden und überraschende formale Ähnlichkeiten und inhaltliche Nachbarschaften erkennen lassen. In der Mannigfaltigkeit bilden sich einzelne, gliedernde Linien heraus, formen sich zu Erzählsträngen mit Querverbindungen und Überschneidungen, stellenweise auch zu Fluchtlinien.

Die Komplexität des narrativen Gefüges wird deutlich, wenn man der Motivkette Haare – Uniform – Jugend nachgeht. An einer Frisur lassen sich Moden ebenso ablesen wie soziale Rollen und Positionen. Als Teil des Körpers sind Haare buchstäblich mit einer Person verwachsen, zugleich aber so leicht formbar, dass sie das Erscheinungsbild der Person grundlegend verändern können. Der Soldat, der auf einer der Fotografien zu sehen ist, trägt den beim Militär verordneten Kurzhaarschnitt. Als Teil seiner Uniform unterstreichen die kurzen Haare die staatstragende Rolle. Die sanften, verträumten Augen des jungen Mannes stehen dazu allerdings in einem eklatanten Widerspruch. Die Spannung wird durch seine im Photoshop vervielfachten, wuchernden Augenbrauen aufgebrochen – ein bizarrer Moment, der wie eine Bildstörung wirkt. Die über den Augen sprießenden Haare verleihen dem jungen Mann etwas Diabolisches und Werwolfartiges. Mit den Haaren wachsen womöglich auch seine aggressiven Triebe, oder ist er doch nur ein gezähmter Wolf – wie der augenlose Hund, der wie bei einem Doppelportrait neben ihm hängt? Der unheimliche Prozess der Verwandlung des Soldaten lässt sich nicht nur als seine Tier-werdung lesen, sondern psychologisch auch als Zeichen des Erwachsenwerdens und der erstarkenden Adoleszenz. Im Gegensatz dazu ist die Sexualität bei den beiden gleich gekleideten Jugendlichen nicht eindeutig zu bestimmen. Mädchen oder Junge? Ihr ebenfalls gleicher Langhaarschnitt trägt zur Verunsicherung in dieser Frage wesentlich bei. Besonders auffallend ist hierbei, wie ordentlich die Haare gekämmt sind. Ob dies ihre eigentliche Frisur ist, oder nur ein hart erkämpfter Kompromiss zwischen den Jugendlichen und ihren Eltern für das repräsentative Familienfoto, bleibt offen. Jedenfalls erscheint das gekämmte Haar nur mehr als eine schwache modische Geste im Vergleich mit jenen wilden Mähnen, die für die revoltierende Jugend der 1960er- und 1970er-Jahre das Zeichen schlechthin für persönliche Freiheit und Individualität waren.

Angesichts der ambivalenten Bedeutung, die dem Erscheinungsbild und insbesondere den Haaren der abgebildeten Personen hier zukommt, stellt sich die Frage, in wie weit es überhaupt möglich ist, sich eine Identität oder auch nur eine Rolle auszuwählen und mit welchen Mitteln einem diese angetragen oder übergestülpt werden. Beide Prozesse der Formgebung scheinen nahezu untrennbar miteinander verwoben zu sein. In diesem Zusammenhang ist für Johannsen ein zentraler Bezugspunkt für die Entwicklung ihrer Arbeit ein Zitat aus Alice Munroes Erzählung Tieflöcher. Die Geschichte handelt von einem Eltern-Sohn-Verhältnis, in dem sich der Sohn jeder fürsorglichen und gesellschaftlichen Erwartung, die an ihn und seine Begabungen gestellt wird, entzieht. Nach Jahren ohne Kontakt schreibt er an seine Mutter: „Es kommt mir so lächerlich vor (…), dass von einem Menschen erwartet wird, sich in eine Uniform einzusperren. Ich meine damit so was wie die Uniform eines Ingenieurs oder eines Arztes oder eines Geologen, und dann wächst Haut darüber, über die Uniform, meine ich, und dieser Mensch kann sie nie wieder ausziehen.“

Ein anderer möglicher Erzählstrang lässt sich ausgehend vom Motiv des Vorhangs bzw. der Wand entwickeln. In den Abbildungen, die Johannsen ausgewählt hat, sind die Vorhänge zu barocken Falten drapiert, die von der Formbarkeit des Materials zeugen, ein Muster bilden und doch aufgrund der kleinen Abweichungen im Faltenwurf Divergenz erzeugen. Vorhänge teilen einen Raum in zwei Hälften. Indem sie sich selbst voll entfalten, verhüllen sie etwas, sie verstecken den Raum, der dahinter liegt und werden so zu einer Art Wand. Diesen undurchlässigen Vorhängen wird das Bild einer perforierten Wand zur Seite gestellt. Die nur im Ausschnitt zu sehende Fassaden-gestaltung zeigt ein Raster aus konkaven und konvexen Kurven, die eine irritierenden Geometrie bilden. Realisiert wurde die Fassade, ein frühes Werk des Bildhauers Erwin Hauer, Anfang der 1950er-Jahre in der Wiener Dorotheergasse. Die historischen Fakten entfalten sich im narrativen Gefüge des Werkes jedoch bald als Sackgasse. Relevanter erscheint stattdessen die dargestellte Struktur: Die sich potenziell unendlich fortsetzende Oberfläche, die aus Modulen aufgebaut ist und dem Prinzip der sich wiederholenden Durchdringung von innen und außen folgt. Die Kanten und Flächen gehen ineinander über und bieten keine Orientierung. Die Oberfläche vibriert. Unterstützt durch das Spiel von Licht und Schatten, beginnt sich die Wand als Grenze zwischen den Räumen aufzulösen. Doch trotz ihrer Durchlässigkeit bleibt rätselhaft, was hinter der Wand passiert. Das Gleiche ließe sich über ein anderes Bildmotiv Johannsens sagen: Hinter dem Netz einer Strumpfmaske zeichnet sich ein Gesicht ab, dessen individuelle Züge durch die löchrige Hülle unkenntlich werden und somit zur Fratze mutieren. Innere Bewegungen und Widerstandslinien bleiben unergründlich. Gesicht wie Person sind sichtbar und zugleich unsichtbar. Zu diesem Themenfeld des Sehens, der Durchsichtigkeit und Unsichtbarkeit zählt unweigerlich auch das Auge. Schon wiederholt war in diesem Text vom Auge als verbindendem Moment zwischen innen und außen die Rede: das Nachtpfauenauge, die traurigen Augen des jungen Mannes, die fehlenden Augen des Hundes, jetzt die durchsichtige Wand, die Wand als Auge, die Augen hinter den Löchern der Maske. Das Motiv drängt sich als eine Art Querverbindung zu den Erzählsträngen, die hier bislang ausführlicher verfolgt wurden, quasi auf. So oder so ähnlich kommt man Stück für Stück dem narrativen Gefüge von Wiener Nachtpfauenauge auf die Spur. Indem Johannsen fragt, wo und wie in den Zwischenräumen der Bilder Intensitäten erzeugt werden öffnet sie neue Perspektiven und deckt unerwartete Bezüge zwischen den einzelnen Bildtafeln ihrer Installation auf.

Annette Südbeck